ethnografische notizen 227: sachstand

Es ist viel passiert, auch wenn hier in den letzten Monaten eher wenig zu lesen war. Selbst als Freiberufler muss man sich die Zeit zum Schreiben nehmen! Daher ein dieser Stelle ein Blick zurück und einer nach vorne – bevor es mit den ethnografischen Notizen und anderen Texten weitergeht:

Geländegang

Gelände-Gang: Johannes J. Arens, Jan C. Maier, Tobias Becker und Danny Frede (v.l.n.r.), Köln 2017

Gelände-Gang: Johannes J. Arens, Jan C. Maier, Tobias Becker und Danny Frede (v.l.n.r.), Köln 2017

Ein Jahr lang waren Jan C. Maier und Tobi Becker (Restaurant maiBeck), Danny Frede (Fotografie) und ich unterwegs in der Region, um Menschen zu besuchen, die mit Leidenschaft Lebensmittel produzieren. Ein weiteres Jahr haben wir gebraucht, um Texte, Bilder und Rezepte in Form zu bringen. Wohl in kein anderes Projekt habe ich jemals mehr Herzblut, Liebe, Schweiß und Tränen investiert als in den Geländegang. Und nie habe ich mehr zurückbekommen – danke Boys!

224 Seiten für spektakuläre € 16,80 auf www.gelaendegang.de.

Soulfood Düren

Wiemele & Wormele – Soulfood Düren

Wiemele & Wormele – Soulfood Düren

Die erste Runde des Projekts  ist geschafft. Im Auftrag von Düren Kultur habe ich mich ein gutes Jahr auf die Suche nach der kulinarischen Identität gemacht. Das war – obwohl ich die Stadt seit Kindertagen kenne – sehr aufregend und manchmal sogar ziemlich exotisch. An drei Abenden habe ich mich im Talkshowformat mit Dürener*innen über Essen und Trinken, die Stadt und das Leben unterhalten. Danke an Dieter Powitz von Düren Kultur für das Vertrauen, mich einfach so machen zu lassen und an Richard Bühl vom Dacapo-Mobil für die kulinarische Untermalung! Zur Vorbereitung habe ich unzählige Gespräche geführt, war viele Tage in der Stadt unterwegs und habe viel geschrieben.

Jacqueline Derichs, Café Bremen, Aldenhoven 2017

Jacqueline Derichs, Café Bremen, Aldenhoven 2017

Ein bisschen was aus der ersten Runde kommt noch – nämlich die Interviews mit Supermarkt-Chef Pascal Klein-Günnewick, mit Bäcker-Shooting-Star Jacqueline Derichs und dem Pulled Pork-Master Justin Jansen. Aber dabei wird es nicht bleiben, denn auch wenn die Arbeit vor Ort manchmal ein wenig zäh war, ist die Stadt viel zu interessant, um jetzt schon aufzuhören! Mit ein bisschen Glück und Budget wird es neue Termine geben und an neuen Ideen für das Projekt feile ich auch bereits. Düren rocks!

tagnacht und GastroGuide Euregio

Auch wenn ich Restaurant-Kritiken nicht zu meinem Kerngeschäft zählen würde bin ich natürlich gerne beim hauptberuflichen Essen dabei. Seit ein paar Jahren schon beim GastroGuide Euregio – gerade frisch auf dem Markt – und in 2017 erstmals bei tagnacht für Köln. Nicht nur als Tester und Texter („Die Expertise des Gastes“) sondern im Februar sogar vertretungsweise in der Redaktion.

KISD – Köln International School of Design

Eine ganz besondere Ehre wurde mir mit dem Short Term Project „Light oder Zero“ bei der TH Köln zuteil. Dank an Lisa Janßen für die Vermittlung. Zwei Wochen lang habe ich mit Studierenden aus Deutschland, Belgien, Italien, Portugal, Schottland, Japan und Taiwan die Zusammenhänge zwischen Lebensmittelverpackungen und Genderkonstruktionen untersucht. Herausgekommen sind spektakuläre Produkte für girly girls und tough guys, the undecided & the irritated …

Tea, Yoghurt & Jam für Tough Guys, KISD SS 2017

Tea, Yoghurt & Jam für Tough Guys, KISD SS 2017

Le Petit Appétit, KISD SS 2017

Le Petit Appétit, KISD SS 2017

Wunderpillen für Girly Girls, KISD SS 2017

Wunderpillen für Girly Girls, KISD SS 2017

Als Gastdozent habe ich außerdem einen Beitrag zur Vortragsreihe KISD-talks – Theories and Practice of Design geleistet und einen Vortrag zum Thema „Brötchentüte – Design & Culinary Diversity“  gehalten.

Summer of Supper

Und weil der Mensch nicht nur vom Schreiben lebt, stehe ich mitunter auch immer wieder mal in der Küche. Beispielsweise beim Summer of Supper im Marieneck, Köln-Ehrenfeld. Nach den wunderbaren CoWorking Erfahrungen mit Nata Simons und Margarete Morché in diesem Jahr direkt zwei Mal.

Am 15. Juli mit der wunderbaren Freitagsrunde (Joerg Utecht, Marco Kramer, Nata Simons, Bernd Labetzsch und Torsten Goffin).

„Robert, Suzette und die anderen – eine essbare Zeitreise“

Die 80er sind kulinarisch nahezu in Vergessenheit geraten. Sauce Robert und Crêpes Suzette, Ragout fin und Pommes Duchesse – nur noch vage Erinnerungen. Zu Unrecht! Die Freitagsrunde nimmt die Supper-Gäste mit auf eine Zeitreise in die aufregenden Jahre zwischen Nouvelle Cuisine und Fusion Food.

Und am 29. Juli mit meinem kulinarischem Kumpel Lukas Bontke:

„Das Rumtopf-Prinzip“

Dieses Supper geht weit über den Sommer hinaus! Schon im Januar haben wir angefangen alles zu jagen und zu sammeln, was Feld, Wald und Wiese so hergeben. Seitdem wird unermüdlich gedörrt und geräuchert, eingesalzen und fermentiert. Wie bei einem klassischen Rumtopf, kommt dazu, was gerade Saison hat. Vom schwarzen Rettich bis zum Mangalica, vom Bärlauch bis zum Waldmeister. Am Ende steht ein fulminanter Rückblick auf die erste Jahreshälfte in sieben Gängen.

ethnografische notizen 29: apfelkraut

aus dem Gastroguide Euregio 2011

Vor der Einführung des Raffinadezuckers war das Süßen von Speisen und Getränken, etwa mit importierter Ware aus Zuckerrohr oder mit heimischem Bienenhonig, eine teure Angelegenheit. Doch die Kulturlandschaft Euregio bot als Obstanbaugebiet neben heimischen Honig noch eine weitere Möglichkeit – das Kraut.

Markt in Aubel/Provinz Lüttich, 2011

Markt in Aubel/Provinz Lüttich, 2011

Der eingedickte Saft von Äpfeln, Birnen oder Zuckerrüben zählt zu den regionalen Traditionen, die seit ein paar Jahren eine erfreuliche Renaissance erfahren. Diese Form der Verarbeitung war in vorindustriellen Zeiten nicht nur eine effiziente Konservierungsmethode und eine geschmackliche Bereicherung sondern als vielfach innerhalb der Dorfgemeinschaft durchgeführte Arbeit, ein wichtiges Element der sozialen Kommunikation.

Apfelkraut ist durchaus auch in anderen Regionen dieser Welt bekannt. Bei den Amish People in den USA zum Beispiel, in der Normandie oder auf der Kanalinsel Jersey, wo das Obst noch zusätzlich mit Lakritz aromatisiert wird. Das Alleinstellungsmerkmal der Produktion zwischen Maas und Rhein liegt jedoch in ihrem transnationalen Charakter – die kulturellen Grenzen folgen in diesem Fall eben nicht den Nationalstaaten. Vielmehr spielen grenzüberschreitende Faktoren wie die geografische Beschaffenheit oder die klimatischen Voraussetzungen eine Rolle. Was nicht bedeutet, dass es keine Unterschiede gibt: In Belgien tendiert man eher zur Birne mit ihrem höheren Zuckergehalt und hantiert hin und wieder auch mit Pflaumen, Datteln und Aprikosen. Die populärste Sorte auf der niederländischen Seite Limburgs ist der rinse stroop, eine Mischung aus Zuckerrüben und Apfel. Deren Bezeichnung verwies ursprünglich einmal auf den mit dem Rheinland assoziierten längst verloren gegangenen hohen Säuregehalt des Produktes. Auf der deutschen Seite hingegen hat seit erfolgreiche Einführung der Zuckerrübe in der Zülpich-Jülicher Bucht im 19. Jahrhundert das Rübenkraut die Apfelvariante nahezu verdrängt.

Der hierzulande hohe Wiedererkennungswert der gelben Verpackung des „Grafschafter Goldsafts“ aus dem Vorgebirge ist dabei vergleichbar mit der Bekanntheit der himmelblauen Streuobstwiese der Siroperie Meurens in Belgien. „Sur vos tartines … du vrai sirop de Liège … un delice“, wie es auf der überdimensionalen Dose auf dem Dach der Fabrik in Aubel heißt, „auf Ihren Butterbroten ist der echte Sirop de Liège eine Delikatesse“.

Und Kraut plus Brot ist sicherlich die häufigste Kombination. Für viele Kriegskinder zählt eine Scheibe graues, vom klebrigen Rübenkraut matschig gewordenes Brot zu den prominenten Erinnerungen an die Jahre nach 1945. Andere Paarungen hingegen sind an Stimmigkeit kaum zu übertreffen. Apfelkraut auf Herver Käse zum Beispiel, einem regionalen Rotschmierkäse, dessen strenger Geruch schon die Aufbewahrung zu einer Herausforderung macht. Ob im Maastrichter zuurvlees oder auf den für die Lütticher Gegend typischen Buchweizenpfannkuchen, Kraut aus Äpfeln und Birnen verleiht einer ganzen Reihe von Gerichten eine überraschend fruchtig-karamellige Note. In der Rheinischen Küche findet vor allem das Rübenkraut Verwendung, beispielsweise zu Reibekuchen oder im Printenteig, wohin es der Legende nach durch die Unterbrechung der Zuckerzufuhr aus der Karibik während der napoleonischen Kontinentalsperre kam.

Das Angebot an Krautsorten zwischen Rhein und Maas ist vielfältig. Auch wenn viele Sorten mittlerweile im großen Stil den Markt erobert haben, sind sie zumeist von guter Qualität. Dass zunehmend auch Sorten mit Gewürzen, Aromen und anderen Zusatzstoffen auf den Markt kommen, mag man als Sakrileg ansehen. Forderungen nach einem Reinheitsgebot sind jedoch überflüssig. Solange die Reinform als Vergleichsmöglichkeit zur Verfügung steht, werden sich Experimente mit Vanillearoma oder Spirulinaextrakt im Laufe der Zeit von selbst erledigen. Dennoch lohnt es, sich rund um Herve oder im niederländischen Heuvelland zwischen Vaals und Maastricht auf die Suche nach den letzten verbliebenen oder den neu eröffneten Manufakturen zu machen. Denn ein gutes Kraut ist wie ein guter Wein. Ausgewogen, harmonisch und in jedem Jahrgang anders. Man schmeckt die Expertise der Hersteller, ihre Kenntnis der Früchte und die Finessen der traditionellen Herstellung. Mit geschlossenen Augen erschließen sich die feinen Noten von dunklem Holz und leicht bitterem Karamell, die an Butter erinnernden Nuancen der Birne und die zarte Säure eines frisch aufgeschnittenen Apfels. Die anhaltende Wiederentdeckung dieses regionalen Produkts wird vermutlich keine kulinarische Revolution auslösen, aber eine persönliche Offenbarung ist sie allemal.

GastroGuide Euregio 2011

GastroGuide Euregio 2011