ethnografische notizen 289: frankreich 2021 (9/14)

Wilde Blaubeeren, Vogesen 09/2021

In der Bretagne finden wir ein paar saure Brombeeren und massenhaft Schlehen in den Hügeln oberhalb der Küstenlinie. Außerdem ein paar Bäume mit wilden Äpfeln. Ein paar besonders schöne Exemplare davon lesen wir auf und nehmen sie mit nach Hause. Unterschiedliche Sorten, von fahlgelb über hellgrün bis dunkelrot.

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ethnografische notizen 118: ein koffer voll marmelade

Ab Frankfurt Flughafen sitze ich im ICE neben einer älteren, nicht uneleganten Dame. Sie trägt einen schwarzen Rock und eine eierschalfarbene Strickjacke aus dickem Garn mit leicht folkloristischem Touch. Auf dem Boden ein nietenbesetzte Handtasche, am Haken eine schlichte schwarze Jacke. Sie nickt mir freundlich zu, als ich mich und meinen Laptop installiere. Während ich vor mich hin tippe, liest sie ein russisches e-Book und schaut hin und wieder aus dem Fenster.

Als wir nach kurzem Halt in Würzburg wieder losfahren, wird sie plötzlich nervös. Weiterlesen

miniportion 046: hiffenmark

Edler Hagebuttentee, Tongeren 2013

Edler Hagebuttentee, Tongeren 2013

Einmal hatte ich den Wunsch, Hagebuttenmarmelade herzustellen. Mit großem Aufwand sammelte ich zunächst in einer Hecke ausreichend Früchte. Eine Tätigkeit übrigens, an der sich mein Mann unter Hinweis auf seine Farbfehlsichtigkeit nicht beteiligen wollte. Er könne das Rote nicht von dem Grünen unterscheiden, sagte er, während er zuschaute, wie die Dornen der gemeinen Hundsrose mich übel zurichteten. Sein Interesse werde jedoch wieder steigen, sobald sich das Rote gesüßt und eingekocht in Gläsern befinden würde. Doch soweit kam es diesmal nicht, denn das mühsam hergestellte Fruchtmus wollte in keinster Weise gelieren und begann schon nach wenigen Tagen zu schimmeln.

Ich hätte es wissen müssen, denn während meine Eltern nahezu alle verfügbaren Früchte und Beeren zu Marmelade oder Gelee verarbeiteten, kann ich mich nicht an selbstgemachte Hagebuttenprodukte erinnern. Auch das Dr. Oetker Einmachbuch, dass ich auf dem Flohmarkt erstand und das laut handschriftlichem Eintrag 1964 eine gewisse Gilla von einer gewissen Pernilla geschenkt bekam, enthält keine Rezepte für Hagebutten, wohl aber ein einliegender Zeitungsausschnitt. Nach diesem werden die Hagebutten gesammelt, halbiert, die Kerne entfernt, mehrfach gewaschen und, mit leichtem Weißwein angefeuchtet, 3 bis 4 Tage im Keller aufbewahrt. Das ist aufwendig. Da haben die Schweden leichter, in deren Supermärkten man „färdiglagad Nypon soppa“ kaufen kann – eine süße Kaltschale, die zumindest in der Konsistenz an meinen Fehlversuch erinnert, aber nicht so schnell schimmelt.

Wikipedia sagt, dass fränkische Krapfen traditionell mit Hagebuttenmark gefüllt werden. Eine Behauptung, die ich vor einigen Jahren bei einem Besuch in Würzburg verifizieren konnte, obwohl ich damals gar nicht so recht wusste, was mit Hiffenmark eigentlich gemeint ist. Ansonsten beschränkt sich der bundesdeutsche Konsum von Hagebutten ja auf den Genuss entsprechenden Tees bei gelegentlichen Jugendherbergsbesuchen.

ethnografische notizen 003: croissant

Maastricht 2010

Auf der 5. Etage einer öffentlichen Einrichtung mit einem spektakulären Blick auf die Stadt sitzen 16 im Kulturbetrieb tätige städtische Angestellte aus Deutschland Belgien und den Niederlanden deren Arbeitssitzung der Tagesordnung gemäß mit einem kleinen Frühstück beginnt

Der runde Tisch ist eingedeckt mit dunkelblauen Platzdeckchen aus Papier, einer praktischen Hülle für Besteck und Serviette und kleinen weißen Tellern mit einem dunkelblauen oder hellgrünen Rand. Darauf ein voluminöses croissantartiges Gebäck und drei kleine Becher aus transparentem Plastik in dem sich Erdbeer- und Aprikosenmarmelade, sowie eine kleine Portion Butter befindet. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe nehmen, nachdem sie einander begrüßt und den Ausblick gebührend gewürdigt haben, Platz. Metallene Thermoskannen mit Kaffee und heißem Wasser für Tee werden herumgereicht und höflich füllt man den Kollegen links und rechts die für deutsche Verhältnisse winzigen Tassen.

Der Anthropologe beobachtet in stiller Erwartung. Wer wird welche Marmelade präferieren, das Croissant schneiden oder plätten, gar in den Kaffee tunken? Der Querschnitt durch die so unterschiedlichen Gebietskörperschaften des Maaslands verspricht aufschlussreiche Ergebnisse.

Doch als etwa eine Stunde später die Teller zur Kaffeepause hin abgeräumt werden, sind diese kulturellen Unterschiede zwischen den Teilnehmern im wahrsten Sinne des Wortes weggeputzt. Auch die anwesenden Wallonen, in der Region bekannt für ihren französischen Sinn für guten Geschmack, haben sich nicht beschwert, dass das leicht trockene Industriegebäck kaum noch etwas mit einem handwerklich hergestellten Croissant zu tun hat, dass der Legende nach während der Belagerung Wiens durch die Türken im ausgehenden 17. Jahrhundert erfunden wurde und in seiner Form an den zunehmenden Halbmond auf der osmanischen Flagge, den lune croissant, erinnern soll. Fast alle Anwesenden schneiden das dröge Hörnchen mit dem Messer auf – lediglich eine niederländisch-limburgische Testperson bestreicht das gesamte Croissant, wie in Frankreich üblich, mit dem homogenisierten Fruchtaufstrich. Die deutschen Teilnehmer vernachlässigen ihren in vielen Urlauben in Holland, Spanien oder Italien erworbenen gierigen Ruf der Gierigkeit und essen die ihnen zugeteilte Marmelade nicht auf. Und nicht nur auf den Tellern der doch so reich mit Milchprodukten gesegneten Niederländer bleibt die Butter liegen, da sind sich alle Esser im Sinne eines niedrig zu haltenden Cholesterinspiegels offensichtlich einig. Frau Antje – übrigens eine bei den Nachbarn vollkommen unbekannte Werbefigur des Niederländischen Molkereiverbands – hätte an dieser Runde sicherlich keine Freude!

Mögen die mentalen Grenzen zwischen den Staaten auch 20 Jahre nach dem Schengener Abkommen hier und da noch den gemeinsamen Alltag erschweren, im gemeinsamen Frühstück sind sie an diesem Morgen gründlich nivelliert. Das Croissant hat sich in toute l’Europe von einem französischen Backwerk ungeklärter österreichischer Herkunft zum größtmöglichen Frühstückskonses entwickelt. Es ist, abseits aller Qualitätsunterschiede, in seiner Universalität zur Tiefkühlpizza der Morgenstunden geworden.