miniportion 143: traubenzucker

Traubenzuckerreserve in meiner eigenen Küche, Aachen 2013

Traubenzuckerreserve in meiner eigenen Küche, Aachen 2013

Der amerikanische Soziologe Richard Sennett sagt, dass ein Großteil der heutigen Texte so viele Verweise auf die Gegenwart aufweist, dass sie schon in wenigen Generationen nicht mehr zu verstehen sein werden. Da hat er vermutlich recht, aber da ich kaum damit rechne, in 221 Jahren noch gelesen zu werden, ergehe ich mich weiterhin in meinen ganz persönlichen Erinnerungen an die Markenwelt der 1980er Jahre.

Genau vor 221 Jahren nämlich wurde der Traubenzucker von einem deutsch-russischen Wissenschaftler entdeckt. Seine Entdeckung, die man früher auch Stärkezucker nannte, machte Johann Tobias Lowitz sogar tatsächlich in Trauben.

Ich selbst entdeckte Traubenzucker immer dann, wenn ich mich verbotenerweise durch einen der oberen Küchenschränke kramte. Hinter diversen Tütensuppen, Teebeutelverpackungen und Puddingpulver gab es nämlich eine quadratische Dose mit einem weißen, leicht beschädigten Deckel. Das Behältnis war von meiner Mutter mit einem blauen Gefrieretikett mit der Aufschrift „Traubenzucker“ versehen und wurde seit Jahren für nichts gebraucht. Niemand wusste eine genauere Verwendung, was vielleicht auch daran lag, dass sich das Pulver in nichts richtig auflösen ließ.

Traubenzucker gab es aber in verschiedenen Härtegraden. Pulvrig im Küchenschrank, in festerer Form als kleine runde Tablette, einzeln verpackt und mit dem Geschmack exotischer Früchte, die man als Kind in der Apotheke bekam (im Sommer, wenn die Hustenbonbons mit Kirschgeschmack gerade keine Saison hatten) und natürlich in der harten Form, als Energiespeicher für den Wandertag. Dextro Energen, um die Sache mal beim Namen zu nennen, der seit 2002 übrigens Dextro Energy lautet, wurde zwar in derselben Küche, aber in einem anderen Ort aufbewahrt. Nämlich in der linken Schublade, da wo meine Mutter die Metalldose mit den Rheila-Pastillen für die freitägliche Kirchenchorprobe aufbewahrte. So hat eben alles seinen Platz im Leben, mindestens 221 Jahre lang.

miniportion 048: eisdiele

Eistheke Stromkasten, Aachen 2013

Eistheke Stromkasten, Aachen 2013

Nach der Vorspeise stelle ich mich zu Freund S., der vor der Tür des Lokals eine Zigarette raucht. Es herrschen nahezu frühlingshafte Temperaturen und wir betrachten durch die große Glasfront die späten Kunden vor der barock gestalteten Eistheke des Etablissements. Wie im Restaurantteil ist auch hier alles französisch angehaucht und die Eissorten heißen Chocolat, Yaourt und Pavot. Die Überschaubarkeit der Portionen in den rechteckigen Edelstahlbehältern lässt – anders als die mit riesigen Mengen Obst dekorierten megalomanen Eisberge der meisten anderen innerstädtischen Eisdielen – vermuten, dass sie sächlich in absehbarer Zeit abverkauft werden könnten. Eine Frau in einem knielangen, beigefarbenen Mantel betrachtet minutenlang unentschlossen das Angebot. Der junge Mann hinter der Theke wartet geduldig und rückt sich seine schwarze, auf halbem Weg in seinem tadellos gebügelten weißen Hemd steckende Krawatte zurecht. Die Kundin lässt sich verschiedene Sorten auf kleinen bunten Plastiklöffeln über die Theke reichen und wir mutmaßen, dass sie jeden Abend auf diese Weise von Eisdiele zu Eisdiele ziehen könnte.

Eisessen ist – bei entsprechenden Temperaturen – für viele Menschen eine regelmäßig ausgeübte Tätigkeit. Als Jugendlicher verbrachte ich viele Nachmittage mit dem Verzehr zweier Kugeln Maracujaeises in der örtlichen Eisdiele unseres Dorfes. Dies führte, sowohl beim Personal als auch in meinem unmittelbaren sozialen Umfeld, zu der Vermutung, ich sei mehr oder weniger heimlich verliebt. Meine plötzliche Vorliebe für Fruchteis, so mutmaßte man, sein nur ein Vorwand, um einer jungen Aushilfe namens Sabrina nahe sein zu können, die ihre Osterferien in Deutschland verbrachte. Ein Missverständnis, das ich billigend in Kauf nahm, um (wie meine Klassenkameradinnen auch) ihren Kollegen/Bruder/Cousin Marco angucken zu können, den ich weitaus interessanter fand als Sabrina und Maracujaeis zusammen. Frühling bleibt eben Frühling.