
Café Wien, Playa del Inglés (Dezember 2010)
Einer meiner Mitreisenden mahnt mich nach dem ersten kanarischen Blogeintrag zu mehr Mitleid und Anerkennung. Die von mir beschriebenen Phänomene seien letztendlich Anzeichen eines menschlichen Bedürfnisses nach Gemütlichkeit, Sicherheit und Vertrautheit. Verhaltensweisen, die ich selbst, trotz aller Abneigung gegen Nacktsport und Wurstsalatfetischismus im Ausland, nicht von mir weisen kann. Nirgendwo ist der Mensch so konsequent wie im Festhalten an den eigenen Ernährungsmustern. Und so finde auch ich mich auf der Insel fast jeden Nachmittag zwischen drei und vier bei einem Stück Kuchen und einer Tasse Kaffee im gleichen Etablissement wieder.
Wäre Gran Canaria eine Auster, das Café Wien wäre ihre Perle, die im äußersten Süden, versteckt in der hintersten Ecke eines schäbigen Einkaufszentrums täglich auf ihre Entdeckung wartet. Denn ab etwa drei Uhr leert sich der schwule Strand von Playa del Inglés und die ersten Karawanen un- oder nur dürftig bekleideter Urlauber machen sich auf den Weg durch die Dünen, um nach einem kurzen Aufenthalt auf dem Hotelzimmer, diesmal bekleidet, zu Kaffee und Kuchen wieder zusammen zu finden. Die Fassade des Einkaufszentrums Cita mitten im Ort bietet, neben einer aus einem billigen Splatterfilm zu stammen scheinenden überdimensionalen Kinderfigur, durch deren Bauch man eine längst nicht mehr im Betrieb befindliche Minigolfanlage betreten könnte, halbplastische Darstellungen diverser europäischer Bauwerke. Hier und da ist die Farbe abgeplatzt und der Styropor vom schiefen Turm von Pisa, von Schloss Neuschwanstein und von der kleinen Meerjungfrau sichtbar. Die große Plaza im Inneren ist gesäumt von grellbunten Cafés, Restaurants und Kneipen mit Namen wie Westfalia, bei Marlene oder Aachener Kaschemme. Monoblocksessel mit blauen Polsterüberzügen, plastinierte Cocktailkarten mit Fotografien und Tafeln, auf denen mit Kreide die kommenden Fußballübertragungen angekündigt sind.
Doch ganz hinten in der Ecke, abseits der seit Jahren verrammelten Swingerclubs im Keller, unberührt von den abendlichen Transenshows und den billigen Souvenirläden thront das Café Wien mit seinen weiß-gelb gestreiften Markisen, den weißen Stühlchen, seinen schmiedeeiserne Schnörkeln und der aus den 1970ern herübergeretteten Dachreklame wie ein Tempel des guten Geschmacks über sämtlichen Auswüchsen des Pauschaltourismus. Aus den Lautsprechern flutet sanft die rund 30-minütige Maxiversion eines George Zamfir-Medleys für Panflöte. An der Wand Wiener Stadtansichten aus dem 19. Jahrhundert in dünnen goldenen Bilderrahmen, die unseren in der Hauptstadt wohnhaften Quotenösterreicher in plötzliches Entzücken versetzen.

Café Wien, Playa del Inglés (Dezember 2010)
Eine unauffällige Dame in einem beigefarbenen Pullover verwaltet das Kuchenbüfet, dass nach Beliebtheitsgrad in diverse Apfelkuchen, Rhabarber-Baiser und Käsekuchen (ganz oben), täglich variierende Obstkuchen (Mitte) und vereinzelte Sahne- und Buttercremetorten (Bückware) gegliedert ist. Keine Patisserieallüren, sondern bodenständiger Kuchen, der auch ohne Physalisdeko und Marzipanfigurinen auskommt. „Backen Sie selbst?“, frage ich und gebe mich für einen Moment der romantischen Vorstellung hin, dass die zahlreichen jeden Tag frisch gebackenen Kuchen alle aus der Hand der vor mir befindlichen österreichischen Pensionistin stammen könnten. Selbst gebacken ist der Kuchen, der auch zuhause in der Stadt einem gehobenen Anspruch genügen würde – jedoch nicht von der Kuchenfee in Heimarbeit, sondern ein paar Ecken weiter, dort, wo eine rührend eklektische Wandmalerei „Torten u. Kuchen aus eigener Herstellung“ anpreist.

Café Wien, Playa del Inglés (Dezember 2010)
Die Pensionistin im Dienst ist sichtlich erfreut über das Interesse an ihrem Kuchen. „Mit oder ohne Sahne?“, bleiben jedoch die einzigen Worte, die man als gewöhnlicher Kunde zu hören bekommt, bevor sie mit einem geübten Handgriff die dünne weiße Papierserviette unter die seitlich in den Kuchen gesteckte Gabel faltet. Denn auch wenn die Außenterrasse mit gläsernen Windfängen geschützt ist, das Wetter auf Gran Canaria kann um diese Jahreszeit wechselhaft sein. Das Publikum hingegen wechselt nur zweimal in der Woche – an den An- und Abreisetagen – und besteht zum größten Teil aus schwulen Männern um die 40, vergesellt von vereinzelten heterosexueller Ehepaare jenseits der Pensionsgrenze. Die Kellner sprechen Spanisch und tragen akkurat gebügelte weiße Hemden und schwarze Bundfalte. Auch das Kaffeegeschirr passt ins Bild. Winzige rote und gelbe Röschen auf cremefarbenem Grund, passende Zuckerdosen und Milchkännchen und bei zwei Tassen Kaffee höflich wird ein Kännchen empfohlen. Das Innere des Lokals ist ebenso aufgeräumt wie die Kuchentheke und mit einer dezenten Weihnachtsdekoration aus roten Schleifen und einer passenden Vase mit Amaryllis versehen.

Wiener Apfel, Café Wien, Playa del Inglés (Dezember 2010)
Mein Freund Gerd bestellt direkt zwei Stücke Kuchen, kann aber im Laufe der Woche seinem Vorhaben, jeden Tag ein Stückchen mehr zu verzehren, doch nicht gerecht werden. Den Nachmittag seines 50. Geburtstages verbringen wir jedoch selbstredend auf der Außenterrasse dieser ästhetische Oase. Der Kellner bringt spanischen Sekt für alle und das Geburtstagskind gönnt sich nach Kaffee und Kuchen ein paar Wienerle mit Brot. Hinter uns verzehrt ein älteres Ehepaar um die 70 gemeinsam ein Stück Erdbeerkuchen mit Sahne. Die Frau in einer dunklen Strickjacke und mit einen Tick zu klein gewickelten grauen Locken streicht ihrem Mann einen Krümel aus dem walrossartigen Schnauzbart, dessen Handgelenksgoldkettchen beim Teilen des restlichen Kuchens in der Sahne hängt. Als sie nach dem Bezahlen aufstehen, bemerkt der Mann, dass die Lehne des benachbarten Stuhls locker ist. „Wir bringen beim nächsten Mal einen Schraubenschlüssel mit“, sagt er zum Kellner. Der informiert umgehend seine Chefin und beide inspizieren den schadhaften Stuhl. Zum ersten Mal sehe ich sie außerhalb ihres Tortenrefugiums und staune über ihre schlanken Beine. „Wenn ich hier 34 Jahre solchen Kuchen verkaufen würde, sähe ich vermutlich nicht mehr so aus“, bemerkt einer aus der Runde und bestellt noch einen Café con Leche.
Unsere Abreise liegt günstig am frühen Nachmittag, gerade noch genug Zeit für ein letztes Stückchen Käsekuchen. Mit dem festen Vorsatz, ihr diesmal mehr Information zu entlocken, mache ich mich auf den Weg zur Theke. „Wie lange machen Sie das schon hier“, frage ich, nachdem ich mich dann doch wieder für den Wiener Apfel entschieden habe. „34 Jahre“, antwortet sie verlegen und beinahe ein wenig erschrocken über die über Gebäckfragen hinausgehende Interaktion. Dass sie nicht aus Österreich komme, sondern aus Deutschland, soviel bekomme ich noch aus ihr raus und dann fehlen uns beiden die Worte. „Sie machen das so … so nett“, sage ich etwas hilflos zum Abschied. „Danke“, sagt sie und errötet nochmals, „man ist es halt so gewohnt.“
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