Kas|sen|zet|tel 014

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Eingelegter Hering mit Orange und Whiskey

Eingelegter Hering mit Orange und Whiskey

Auf dem riesigen Parkplatz für 850 Autos gibt es nur noch wenige Lücken. Eine Frau in einer rosafarbenen Jacke schiebt einen gleichfarbigen Schirm im Einkaufswagen über den Zebrastreifen. Offensichtlich hat sie noch nicht das gefunden, was sie sucht Weiterlesen

ethnografische notizen 098: metamorfoza/gdańsk

Ochsenschwanz/Sauerampfer/Waffel – Restauracja Metamorfoza, Gdańsk 2015

Ochsenschwanz/Sauerampfer/Waffel – Restauracja Metamorfoza, Gdańsk 2015

Weil das eigentlich für den Samstagabend vorgesehene Fischrestaurant schon nachmittags ausgebucht ist, machen wir uns auf gut Glück auf die Suche nach einem Abendessen. Wir versuchen, uns an die Lokale zu erinnern, an denen wir tagsüber vorbeigelaufen sind. „Müssen wir uns gegebenenfalls mal für abends merken“, sagen wir in solchen Fällen immer und vergessen den Namen umgehend und zwei Straßen weiter auch die Adresse wieder. A., den Stadtplan fest in der Hand, schreitet voran. Und weil die Innenstadt von Danzig nicht besonders groß ist, finden wir – vermutlich eher zufällig – tatsächlich das eine oder andere besagte Restaurant.

Beim ersten Versuch überzeugt uns der Tisch nicht (enge, dunkle Ecke), beim zweiten ist es die Karte (uninspiriertes Italo-Fusion-Food). Und dann stehen wir ein paar Straßenecken weiter plötzlich vor einem Lokal namens „Metarmorfoza“. Sieht von außen ziemlich voll aus, die wenigen Tische sind besetzt mit jungen Norwegern. Wir fragen trotzdem und werden gebeten, noch zehn Minuten zu warten – ein Tisch sei nicht gekommen und man könne gleich Bescheid geben. Wir gehen ein paar Meter weiter und betrachten die Futterstation der örtlichen Katzenhilfe auf der anderen Straßenseite, die sowohl von Katzen als auch von dicken Tauben besucht wird, bis wir kurze Zeit später hereingebeten werden.

Auch dieses Restaurant ist, wie die meisten hier, mit dicken, schweren, tiefen Polstermöbeln bestückt. Gelb und rot. Ich frage mich, ob die Polen unsere Gaststätten in Deutschland aufgrund der harten Stühle nicht furchtbar ungemütlich finden. Der Kellner, ein schöner junger Mann mit unvermeidlichem Vollbart, nimmt unsere Jacken und erklärt das Menü. Jedes Gericht wiege ungefähr 100 Gramm, plus minus 20. Wir gehen gemeinsam die Karte durch. Es gibt insgesamt neun Kombinationen, aus denen man drei, fünf, sieben oder neun Gänge bestellen kann. „Using the bounty of the region and digging into history, tradition and culture, Justyna (die Eigentümerin) presents the Polish & Pomeranian cuisine in an innovative manner“, heißt es auf einem Handzettel, den ich später zusammen mit der Visitenkarte einstecke.

Die einzelnen Gänge haben jeweils eine lateinische Überschrift – etwa Clupea harengus für Hering oder Pastinaca sativa für Pastinake – was mich mit meinem ausgeprägten Kategorisierungs- und Ordnungstick schon freudig stimmt. Darunter sehr knappe und nüchterne Umschreibungen der Zutaten wie duck/potato/onion oder pike/beef flank/stock. Der Kellner notiert unsere Bestellungen auf einem kleinen Zettel und weil wir vier unterschiedliche Vorstellungen von dem haben, was wir lecker finden, muss er einiges schreiben.

Schon beim ersten Amuse, einem winzigen Möhrengebäck mit Gänseblümchengarnitur fühle ich mich angenehm an unser Projekt „Geländegang“ erinnert. Eine Assoziation die sich in den folgenden Gängen fortsetzt. „Gruß aus Danzig“, schreibe ich den Jungs im MaiBeck später, „es gab Sauerampfer, Gänseblümchen, Giersch, Vogelmiere und Löwenzahn.“ „Danzig ist Weltklasse“, antwortet Jan Maier, „schön, daß wir mit den Wegekräutern nicht in der Kölner Nische stecken.“

Spätestens mit den ersten Gängen werden die Ambitionen des Lokals und die Inspiration durch Redzepi und Noma in Komposition und Anmutung der Gerichte deutlich. Der schöne Mann bringt Hering und Dill auf einem metallisch-grün schimmernden Keramikteller. „Soll ich ehrlich sein?“, frage ich meine Leute am Tisch, „sieht wunderschön aus, schmeckt aber irgendwie nach nichts.“ Die anfängliche Enttäuschung reißen die folgenden Gänge aber umgehend wieder raus. Es gibt (zumindest für mich) Tartar mit pochiertem Wachtelei, noch einmal Hering und Sauerklee; Huhn mit polnischen Frytki und Pastinakenmayonnaise; süße mit Ochsenschwanz gefüllte Waffelröllchen, Sauerampfer im Blatt und als Mousse und zum Abschluss einen spektakulär frischen Berliner mit Pudding aus Enteneiern und Puderzucker, dazu Saft vom gekochten Apfel in einer kleinen Flasche, deren Kronkorken die Kellner erst am Tisch entfernen.

Zufrieden sitzen wir danach in tiefen, weichen, gelben und roten Polstermöbeln und sind eigentlich ganz froh, dass das Fischrestaurant an diesem Samstag bereits ausgebucht war.

 

Restauracja Metamorfoza

Szeroka 22/23-24/26

Gdańsk

www.restauracjametamorfoza.pl

miniportion 312: matjes

Heringhappen auf dem Markt, Leiden 2004

Heringhappen auf dem Markt, Leiden 2004

Wenn man klein ist, dann ist auch die Welt noch eher klein und lange Zeit war das Holland das am weitesten entfernte Land, das ich mir vorstellen konnte. Als Kind war mir dabei der Unterschied zwischen nationalstaatlichen Grenzen und denen von Bundesländern nicht immer klar und gelegentlich bestand ich deshalb im Auto darauf, auch an der Grenze zu Rheinland-Pfalz „Nun ade, du mein lieb Heimatland“ zu singen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Grenze zu den Niederlanden war mir natürlich schon deshalb geläufig, weil wir sie zum kostengünstigen Einkauf von Gemüse, Benzin und Fisch häufig überquerten. Trotzdem brachte ich den hinter Aachen gelegenen Grenzort Vaals anfänglich gerne mit dem britischen Wales durcheinander. Aber auch das legte sich im Laufe der Zeit. Dennoch blieb der ein paar Meter jenseits von Deutschland stattfindende Wochenmarkt sehr exotisch für mich, weil das Konzept „Wochenmarkt“ als solches in meiner dörflichen Heimat gänzlich unbekannt war. Hier wurden nicht nur Obst und Gemüse in unvorstellbaren Mengen verkauft, hier machte der wie Rudi Carell klingende Käsehändler beim Abwiegen von „altem Holländer“ jedes Mal den selben Witz und vor allem konnte man hier neben Backfisch auch Matjes-Heringe kaufen. Tote Fische, die nicht als Filet kamen und auch noch ihren Schwanz besaßen, waren mir eigentlich eher suspekt. Aber die Tatsache, dass man sie am selbigen packt, über den Kopf hebt und stückchenweise abbeißt, überstieg alles je Gesehene. Aber um ganz ehrlich zu sein, habe ich das auch nie gesehen und verlasse mich hier vollständig auf die Schilderungen meiner Mutter, die ja mit ihren Nachbarinnen zu ganzen anderen Zeiten auf dem Markt verkehrte.

Heute allerdings vermute ich, dass diese Verzehrmethode, wie der Akzent von Rudi Carell, die Tulpen im Keukenhof zu Lisse oder die Figur von Frau Antje, schlicht von cleveren Werbestrategen für den deutschen Markt erfunden wurde.