Wien zeichnet sich durch ein beharrliches Festhalten an Traditionen aus, durch eine Lust an komplizierten Ritualen und eine gewisse Skepsis gegenüber kulinarischer Innovation. Kurz: Eine ganze Stadt tut so, als wären die letzten 100 Jahre nicht passiert. Das zeigt sich ganz besonders in den kulinarischen Konventionen und Gepflogenheiten …
Nach diversen erfolglosen Telefonaten bekommen wir einen Tisch in einem Gasthaus am Radetzkyplatz, unweit unserer Wohnung. Eine Empfehlung unseres Vermieters.
Gasthaus Wild
Rindfleischsuppe mit Fritaten, einem Leberknödel, frischem Schnittlauch und Frühlingszwiebeln | Kalbsbeuschel mit Serviettenknödel | Käse mit Marillen-Chili-Marmelade | 2x 1/8 Gemischter Satz
Personal
- junge Kellnerinnen und Kellner (professionell und ohne Uniform)
Gäste
- mehrheitlich Einheimische,
- darunter eine Familie mit einem jugendliche Sohn, die offensichtlich einen gleichaltrigen Flüchtling zum Essen eingeladen hat,
- ein paar Touristen, beispielsweise ein mittelaltes niederländisches Ehepaar
Ich bestelle ein weiteres 1/8 gemischten Satz und wundere mich, warum der Kellner mein Glas nicht mitnimmt. Er kommt mit einer kleinen Karaffe aus Glas zurück, dessen Inhalt er gekonnt schwungvoll in mein Glas gießt. Die Wassergläser werden auf einen Bierdeckel gestellt, die Weingläser nicht. Das niederländische Ehepaar am Nachbartisch erkundigt sich nach den Kaffeespezialitäten. Die seien alle auf Espresso-Basis, verkündet der Kellner. Die Niederländer fragen noch einmal nach. „Nein, diesen Filterkaffee, den macht man in Deutschland, glaube ich“, sagt er.
Von der bereits erwähnten in Köln Österreicherin bekam ich vorab den Tipp für das folgende Lokal. Ein wenig widerwillig vielleicht, da selbst aus der Steiermark stammend mit einer gewissen Skepsis gegenüber der Hauptstadt ausgestattet. Aber immerhin.
Gasthaus Huth
Verhackertes | Ganselcremesuppe mit Bröselknödel | Wiener Backhuhn mit Vogerl-Erdäpfel-Salat und Preiselbeeren | 1/8 Blaufränkischen | 1/8 Zweigelt
Personal
- ein älterer Kellner mit einem dezenten osteuropäischen Akzent, der mich trotz seiner Freundlichkeit irgendwie an Hans Moser erinnert
Gäste
- einheimische Damen und Herren, teils im Weihnachtsfeierkontext, teils privat unterwegs, die Herren bestellen noch einen Wein, die Damen teilen sich ein Dessert
Unser Tisch befindet sich auf der Empore, über den Köpfen der anderen Gäste, denen wir bequem auf die Teller schauen können. Der Herr Ober stellt einen Korb mit Brotscheiben auf den Tisch, dazu ein kleines Weckglas mit fleischlichem Inhalt. „Vrhkts“, sagt er und nimmt unsere Bestellung auf. „Wie heißt das noch einmal?“, frage ich schnell, bevor er wieder geht. „Vrhkts“, wiederholt er geduldig und steigt die Treppe hinunter. „Verhackertes“ sagt P., der mittlerweile sein Smartphone befragt hat. Endlich bekommen auch wir einmal die Suppe angegossen, nachdem der Kellner ein riesiges Tablett die engen Stiegen hinaufgeschleppt hat. Die Zitronenhälfte zu den (aus)gebackenen Gerichten ist ordentlich in ein Gaze-Tütchen eingeschnürt, der Kartoffelsalat kommt auch hier mit einer Haube aus Vogerlsalat.
Man müsse Ordnung in die eigenen Angelegenheiten bringen, schrieb Maria Theresia vor gut 300 Jahren an ihre Tochter Marie-Beatrix. „Um aber damit zum Ziel zu kommen, muß man sich überwinden, sich über die gewöhnlichen und täglichen Dinge zu unterscheiden, ohne in dieser Hinsicht irgendetwas unbestimmt zu lassen. Auch muss man an dem festhalten, wozu man sich einmal entschlossen hat, ohne das geringste zu verändern und sich sogar ein Vergnügen daraus machen.“
Briefe der Kaiserin Maria Theresia an ihre Kinder und Freunde, 1881
zitiert nach: Christine Hehle (Hrsg.), Wien literarisch, Berlin 2012
Gasthaus Wild | Radetzkyplatz 1 | 1030 Wien
Gasthaus Huth | Schellinggasse 5 | 1010 Wien