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Delhaize, Mons 2016

Delhaize, Mons 2016

Wieder in Belgien. Diesmal auf Dienstreise in Mons. Weil ich meine Zahnpasta vergessen habe, mache ich mich in der Mittagspause auf zum nächstgelegensten Supermarkt. Kalt ist es und nass, obwohl eigentlich Frühling sein sollte und der Kaugummiautomat in der Innenstadt-Filiale des Delhaize ist „en panne“. Weiterlesen

ethnografische notizen 37: belgiens trost – teil 1/5

"Mitraillette" in Liège, Belgien

"Mitraillette" in Liège, Belgien

Das kleine Königreich im mittleren Westen Europas steckt tief in der Krise. Lediglich Essen und Trinken eint die zerstrittenen Landesteile. Noch, den mit einer drohenden Pleite unserer genussfreudigen Nachbarn könnte auch dieses letzte Stück gemeinsamer Identität verschwinden

Ein überdimensionales Logo mit einem stilisierten belgischen Löwen leitet die Autofahrer von der Straße zu den Parkplätzen auf dem Dach des Gebäudes. Eine neonbeleuchtete Treppe führt hinunter in den Laden und schon die ersten Schritte geben die Richtung vor. Das Sortiment empfängt mit der Weinabteilung, mit einer derart großen Auswahl an Champagner und Crémant, wie sie in Deutschland allenfalls im gehobenen Fachhandel zu finden sein dürfte. Kein Wunder, stieg der Champagnerkonsum im Königreich doch im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2009 um satte 9 Prozent, wie das Comité interprofessionel du Vin de Champagne bekannt gab. Weiter hinten im Geschäft harren zwei Hummer mit von einem weißen Gummiband zusammengehaltenen Scheren in einem geräumigen Becken ihrem Schicksal. Daneben ein ganzes Sortiment an Werkzeugen für den alltäglichen Luxus – Krustentierbestecke, Austernmesser und Schneckenpfännchen nebst dazugehöriger Zange. In fast jedem Gang sind unauffällige Mitarbeiter in adretten Kitteln damit beschäftigt, die Regale aufzufüllen, hier und da eine Konservendose zurecht zu rücken und Kunden zu einem vergeblich gesuchten Produkt zu begleiten. Hier heißen die Fertiggerichte im Kühlregal nicht irgendwie nebulös „Hähnchenpfanne asiatisch“, sondern ganz selbstbewusst „Flämisches Kaninchen mit Pflaumen“ und die Frischfleischtheke offeriert Steaks gleich von mehreren Rinderrassen. Die Gemüseabteilung bietet, neben den üblichen klimakatastrophalen kenianischen Prinzessböhnchen und thailändischen Drachenfrüchten eine große Auswahl regionaler Spezialitäten. Chicoree ist beispielsweise gerade im Angebot, „Freilandware aus Brabanter Boden“ vermerkt ein kleines Etikett mit dem Hinweis auf „Region und Tradition“.

Was klingt wie ein High End-Delikatessgeschäft im Herzen des diplomatischen Viertels von Brüssel, ist in Wahrheit die örtliche Filiale der nationalen Supermarktkette Delhaize in Eupen, der Hauptstadt der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (DG) mit gerade einmal 19.000 Einwohnern. Für einen durchschnittlichen deutschen Supermarktkunden in Angebot, Frische und Service eine kulinarische Offenbarung, für die hier einkaufenden Belgier ein Stück Alltag. 1867 wurde das Herzstück belgischer Supermarktkultur in der Nähe von Charleroi gegründet und verfügt knapp 150 Jahre später über satte 755 Filialen im kleinen Königreich mit seinen gerade einmal 11 Millionen Einwohnern.

Von Rezession und Staatszerfall ist hier zwischen Wachteleiern und handgeschöpftem Salz, zwischen Kirschbier und Algensalat erst einmal nichts zu spüren. Dabei gerät Belgien nicht nur aufgrund der unüberbrückbaren politischen Differenzen zwischen Flamen und Wallonen immer tiefer in die Krise. Im Januar setzten Rating-Agenturen die Bewertung der Staatsanleihen auf „negativ“ und König Albert II. forderte die Politik zu größerer Sparsamkeit im laufenden Haushaltsjahr auf. Die Medien berichten nahezu täglich über neue Teilungsszenarien und die Sorge um die ökonomische Zukunft des Landes scheint mehr als berechtigt.Der Zugewinn der Gastronomiebranche um mehr als sechs Prozent in 2010 wird zwar noch auf die Senkung des entsprechenden Mehrwertsteuersatzes von 21 auf 12 Prozent zurückgeführt, was den belgischen Haushalt mal eben rund 230 Millionen Euro gekostet haben soll. Doch das Image der sorgenfreien Genießer bekommt erste Kratzer. Im Januar meldete die Berufsvereinigung der belgischen Kartoffelhändler eine Preissteigerung von rund 38 Prozent im vergangenen Jahr. Eine Preissteigerung von bis zu zehn Cent pro Portion für das in der Papiertüte verkaufte Nationalheiligtum „friet“, wie die flämische Tageszeitung „De Standaard“ im selben Artikel vorrechnete.

Zu eben einer Frittenrevolution mit kostenlosen Pommes Frites hatte die Jugendorganisation „Niet in onze naam“ dann auch die belgischen Bürger im Februar aufgerufen. Nachdem absehbar geworden war, dass das Königreich nach 250 Tagen ohne Regierung den Irak als bisherigen Weltmeister in Sachen politischer Pattstellung ablösen würde, wollte man auf die Gemeinsamkeiten von Flamen und Wallonen hinweisen und auf die Gefahren einer möglichen Spaltung des Landes.

ethnografische notizen 025a: entrecôte mit gebratenen semmelknödeln und koriander-hollandaise

Entrecôte mit gebratenen Semmelknödeln und Koriander-Hollandaise

„Am ehesten vielleicht steak frites“, antwortet mir Karl-Heinz Lambertz, der Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, auf meine Frage, worauf er denn am ehesten Lust habe, wenn er von einem Auslandsaufenthalt nach Belgien zurückkehre.

„Allez“, denke ich, „das soll es heute abend auch bei mir sein!“ Und weil ich am Eupener Busbahnhof noch eine halbe Stunde auf die Linie 14 warten muß, die mich zurück nach Deutschland bringt, widme ich mich nach der Politik in aller Ruhe der benachbarten Delhaize-Filiale. Auch hier in der belgischen Peripherie, in Eupen mit seinen rund 18.000 Einwohnern, ist Belgiens größte Supermarktkette eine Offenbarung. Ich erstehe 254 Gramm Entrecôte aus biologischer Erzeugung und knackig-festen Chicorée, der – frisch aus dem Brabanter Boden gezogen, wie mir das Etikett erzählt, in dieser Qualität nicht zu bekommen ist. Zuhause entscheide ich schweren Herzens auf die frites zum Steak zu verzichten, schneide stattdessen die Semmelknödel vom Vortag in Scheiben und rühre mir fix eine Hollandaise für das mitgebrachte Koriandergrün. Manchmal muss man sich eben was gönnen, wenn man aus dem Ausland zurückkommt.