Zu Schulzeiten weilten einmal polnische Austauschschüler und -schülerinnen im Nachbardorf. An Einzelheiten des Besuchs kann ich mich nicht mehr erinnern, zum einen weil ich kein Mitglied des gastgebenden Pfadfinderstammes war, zum anderen weil das alles schon sehr lange her ist. Im Gedächtnis geblieben ist mir aber der Bericht von Schulfreundin M., dass die Gäste gleich ganze Saftgläser voll Wodka getrunken hätten. Von Wodka hatte ich damals immerhin schon gehört, der Brauch jedoch, Schnaps in größeren Mengen als den in Deutschland üblichen 2 cl zu konsumieren, fand ich hingegen ziemlich unvorstellbar.
„Einen Doppelten oder soll ich gleich die ganze Flasche bringen?“, fragt der Kellner im Restaurant Kubicki, nachdem wir nach Schweinskotelett mit Sauerkraut und Bratkartoffeln eine Runde Schnaps bestellen. „Haben Sie auch was aus der Region“, frage ich. Der Kellner zeigt uns auf der Wodka-Seite die Sorten, die zumindest aus Polen kommen. Wir entscheiden uns für die Kartoffel-Variante der Marke „Chopin“, mit deren Bezeichnung die Herkunft ja auch für Unkundige ersichtlich wird, bleiben allerdings eher unpolnisch beim touristischen kleinen Schnapsglas. Der Inhalt ist eiskalt und so mild, dass sogar mein Mann, der sich ansonsten von allen Getränken oberhalb der 30 Prozent schütteln muss, Gefallen daran findet. Ein „Single-Ingredient“, wie ich später auf Wikipedia lese, bei dem „die Basis des Destillates reinsortig gehalten wird und dem Endprodukt keine Zusatzstoffe zugefügt werden. (…)Die Grundsubstanzen für die drei Vodkas werden in derselben Region kultiviert, viermal destilliert und nicht mit Geschmacks- oder Geruchsstoffen versetzt.“ Am letzten Abend trinken wir in der Cool-Tura Bar, einem offensichtlich sehr populären Etablissement am Rande der Stadt, denselben Wodka. „Wie bitte?“, fragt der Barmann als ich bestellen möchte. Offensichtlich gehört die Marke mit einem Preis von 13 Zloty pro Shot nicht unbedingt zum Standardprogramm des überwiegend jungen Publikums. Die meisten Gäste haben auch ein Bier in der Hand.
Auch damit haben wir in den vergangenen Tagen gute Erfahrungen gemacht. Beispielsweise in einer Bar namens „Lamus“ mit der großblumigen Siebziger-Jahre-Tapete, in der mir die junge Frau hinter der Theke ein halbes Glas Craft-Beer „Rock’n Rye“ schenkt, weil das Fass gerade leer geworden ist. Wir probieren Karamellbier namens „Classic Karmi“ aus dem Supermarkt, das weitaus weniger süß ist, als das Name und Etikett vermuten lassen würde und sitzen auf der Außenterrasse der Brauerei Mieski in Sopot und beobachten die Wochenendurlauber, die entlang der Souvenirhändler die Straße hinunter Richtung Ostsee laufen. Zwei helle Biere gibt es in der Karte, ein Dunkles und American Red. 0,42 dunkles Bier in kugeligen Humpen aus Glas kosten acht, mein ziemlich herbes Rotes neun Zloty. Für den großen Durst gibt es alle vier auf einem praktischen Holzbrett. „Lecker“, denke ich, blinzele in die Sonne und verzichte auf ein zweites Glas, um sicher zu stellen, dass auch ich den Strand noch erreichen werde.
Lediglich der polnische Wein will mich nicht so recht überzeugen. Als wir in der Winiarnia Literacka an einer Ecke der Mariengasse einen Aperitif nehmen, finde ich auf der Weinkarte einen polnischen Rot- und einen Weißwein. „Wir haben aber nur Weißwein“, sagt der Kellner und ich nehme den Riesling. Der heißt Saint Vincent und schmeckt eher dünn und – nun – sauer. „Polen wird nicht zu meinem Lieblingsweinland“, sage ich zu den anderen nach etwa der Hälfte des Glases. Die anderen blicken mich mitleidvoll über ihre französischen Rotweine hinweg an.
Auf dem Weg zum Essen sehe ich in der Menü-Vitrine eines Restaurants eine ungewöhnliche Flasche mit der Aufschrift Machandel. Ich erinnere mich dunkel daran, dass ich in der „Blechtrommel“ von dieser Wacholder-Spezialität gelesen haben muss. Mein Jagdinstinkt ist geweckt. Den ersten Versuch mache ich in einem Spirituosengeschäft, das mich an den längst geschlossenen Schnapsladen in meinem Heimatdorf erinnert. „Ich spreche ein bisschen Deutsch“, sagt der ältere Inhaber auf meine Frage und dann „Machandel ist nicht da!“. Und zwar in einem so bestimmtem Tonfall, dass ich mich höflich bedanke und den Laden schnellstens verlasse. Ein paar hundert Meter weiter verkauft ein Kiosk (wie die meisten Kioske hier) ein ziemlich beeindruckendes Assortiment an Schnaps. „Machandel?“ sage ich. „Can you repeat it?“, sagt der Verkäufer, „I have never heard of it.“ Abends dann, im Restaurant am Fischmarkt, erblicke ich zu meiner Erlösung eine Flasche auf der Theke und einen entsprechenden Eintrag in der Karte. „Wo kann ich denn eine Flasche Machandel kaufen?“, frage ich den etwas behäbigen Kellner. „Im Restaurant Goldwasser, im Coffee-Shop Goldwasser“, sagt er „und – hier.“ Er bringt uns Schnapsgläser mit einer auf einen Zahnstocher gespießten Backpflaume. Nach dem Anstoßen lese ich den anderen einen Text von einer Website mit dem Titel „Danziger Trinksitten“ vor, der die Sache mit der Backpflaume erläutert. Den Zahnstocher darf man nämlich erst knicken, nachdem man den Pflaumenstein zurück ins Glas gespuckt hat: „Iberm Flaumenstein im Glase, wie’s nach altem Brauch sich schickt, wird dänn einmal vore Nase der bewußte Stab jeknickt“, zitiert der Eintrag eine Postkartenserie von 1939. Das bekommen wir noch hin. Eine andere Trinkspiel-Variante bei der ein zur Hälfte mit Machandel gefülltes Grogglas reihum gereicht wird und bei dem der vorletzte Trinker bezahlen muss, lassen wir lieber aus. Wir sind ja schließlich keine Schüler mehr.