ethnografische notizen 245: berlin-neukölln

Burrito Baby, Berlin-Neukölln, Februar 2019

Burrito Baby, Berlin-Neukölln, Februar 2019

Neun Jahre später laufe ich durch meine alte Straße. Das Haus in dem ich zwei Jahre lang gewohnt habe scheint durchsaniert. Im Dunkeln leuchten die Wohnungen gediegen durch die alten Sprossenfenster. Wir sind auf dem Weg zum Abendessen und spazieren durch den Reuterkiez, vorbei an vietnamesischen, peruanischen und sudanesischen Restaurants. „Nach der gastronomischen Gentrifizierung kommt jetzt die kulinarische Ethnifizierung“, denke ich. Weiterlesen

ethnografische notizen 225: berlin 2017/02

Garten der Lüste – Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin

Abgelegen zwischen irgendwie Parkplätzen und Baustellen, an denen mit diesen Temperaturen irgendwie niemand arbeitet. Das Niemandsland des Potsdamer Platzes ist nach Wende aus der Mitte hierhergerutscht. Irgendwie, alles irgendwie. Unmengen von Rollsplit, die, auch jetzt, wo das Eis der letzten Wochen nicht mehr da ist, nicht weggekehrt werden. Die beiden älteren Damen vor mir versuchen, das Gebäude durch die mittlere Eingangstüre zu betreten. Die macht aber keine Anstalten sich zu öffnen. Ich halte ihren die rechte Türe auf, während sie sich die Schuhe an der Schmutzmatte abstreifen.

Frans Snyders | Stilleben mit Hummer und Früchten | o.J. Kopie nach Hieronymus Bosch | Der Garten der Lüste | um 1550/60 Jan Davidsz de Heem | Früchte und Blumenkartusche mit Weinglas | 1651

Frans Snyders | Stilleben mit Hummer und Früchten | o.J.
Kopie nach Hieronymus Bosch | Der Garten der Lüste | um 1550/60
Jan Davidsz de Heem | Früchte und Blumenkartusche mit Weinglas | 1651

Am Eingang unterhält sich eine blonde Wächterin (in Zivil) mit ihrem schnauzbärtigen Kollegen (in Uniform) über die Überstundensituation. Weil ich nicht stören möchte, frage ich eine Kollegin im Nachbarraum nach der Hieronymus Bosch-Ausstellung. Da scheine ich nicht der erste zu sein. Sehr verbindlich weist sie mir den Weg und begleitet mich sogar ein paar Schritte. Bevor sie an ihren Platz zurückkehrt, bitte ich noch um Erlaubnis, mit dem Handy und ohne Blitz fotografieren zu dürfen. „Selbstverständlich“, sagt sie.

Frans Hals | Catharina Hooft mit ihrer Amme | um 1619/20 Jan Gossaert | Der Sündenfall | um 1525 Nicolaes Maes | Alte Frau beim Apfelschälen | um 1655 Meister des Gereon-Altars | Marienaltar aus St. Gereon | um 1420/30

Frans Hals | Catharina Hooft mit ihrer Amme | um 1619/20
Jan Gossaert | Der Sündenfall | um 1525
Nicolaes Maes | Alte Frau beim Apfelschälen | um 1655
Meister des Gereon-Altars | Marienaltar aus St. Gereon | um 1420/30

In Raum Römisch Zwei (Deutsche Malerei) berührt ein kleines Mädchen mehr oder weniger unbeabsichtigt den Rahmen eines Bildes und erschrickt ob des durchdringenden Alarmtons. Eine jüngere Frau mit zwei auf den Hals tätowierten Sternen, einem knielangen Pullover (schon wieder ein Pullover) und einer schwarzen Carharrt-Mütze durchquert den Saal.

Joachim Antonisz Wtewael | Küchenstück mit dem Gleichnis vom Großen Gastmal | 1605 Anne Vallayer-Coster, Stilleben mit Schinken, Flaschen und Radieschen, 1767 Pieter Bruegel d.Ä., Die niederländischen Sprichwörter, 1559

Joachim Antonisz Wtewael | Küchenstück mit dem Gleichnis vom Großen Gastmal | 1605
Anne Vallayer-Coster, Stilleben mit Schinken, Flaschen und Radieschen, 1767
Pieter Bruegel d.Ä., Die niederländischen Sprichwörter, 1559

Im der dann doch irgendwie überschaubaren Sonderausstellung sitzen weitere ältere Damen in kurzen Tweed-Jackets und flauschigen Pullovern auf schwarzen Plastikklappstühlen und kleben an den Lippen eines jüngeren Kunsthistorikers. Als er ihre Aufmerksamkeit auf eine Kopie des Gartens der Lüste lenkt, drehen sie ihre Stühlchen synchron um einen Viertelschlag nach rechts.

Quinten Massys | Die thronende Madonna | um 1525 Meister des Hausbuchs | Das Abendmahl | um 1475/80 Pieter Aertsen | Marktfrau am Gemüsestand | 1567

Quinten Massys | Die thronende Madonna | um 1525
Meister des Hausbuchs | Das Abendmahl | um 1475/80
Pieter Aertsen | Marktfrau am Gemüsestand | 1567

Ich verlasse die Schau und spaziere chronologisch an den Höhepunkten westeuropäischer Kunstgeschichte vorbei. Dürer, Cranach, Holbein. Einiges kommt mir sehr bekannt vor. Van Eyck, Bruegel, Bosch. „Das auch hier?“, denke ich. Rubens, Rembrandt, Vermeer. Lauter Juwelen, versteckt in einem unscheinbaren, beinahe unsichtbaren Museum mit noch unspektakulärerer Bezeichnung.

Hendrick ter Brugghen | Esau verkauft sein Erstgeburtsrecht | o.J. Matteus Stom | Esau verkauft sein Erstgeburtsrecht | o.J. Willem Kalf | Stilleben mit chinesischer Porzellandose | 1662

Hendrick ter Brugghen | Esau verkauft sein Erstgeburtsrecht | o.J.
Matteus Stom | Esau verkauft sein Erstgeburtsrecht | o.J.
Willem Kalf | Stilleben mit chinesischer Porzellandose | 1662

„Man müsste“, sage ich wenig später beim Lunch zu meinem Berliner Freund P., „man müsste mal das ganze klassizistische Gerümpel von der Museumsinsel aufräumen.“ Ich gerate in Fahrt. „Antikensammlung interessieren doch eigentlich nur ein Nischenpublikum.“ Relikte fragwürdiger preußischer Ideale, die den Bürger durch die Erbauung vor griechischen Statuen zum Maßhalten aufriefen und ihn so regier- und beherrschbar machen sollten. „Edle Einfalt, stille Größe“, oder so. Und irgendwie immer noch.

Denn die Dicken und die Alten, die Hässlichen und die Gierigen, die Maßlosen und die Fleischigen, die Obszönen und die Geilen – wohnen weiterhin unbemerkt irgendwo zwischen Parkplatz und Baustelle im Zonenrandgebiet am Potsdamer Platz. Es lohnt sich, sie dort einmal zu besuchen!

Jan Steen | So de Ouden songen, so pypen de jongen | u, 1663 Jan Vermeer | Das Glas Wein | um 1661|62 Simon Marmion | Szenen aus dem Leben des hl. Bertin | 1459

Jan Steen | So de Ouden songen, so pypen de jongen | u, 1663
Jan Vermeer | Das Glas Wein | um 1661|62
Simon Marmion | Szenen aus dem Leben des hl. Bertin | 1459

Gemäldegalerie

Staatliche Museen zu Berlin | Kulturforum

Matthäikirchplatz 6 | Berlin

ethnografische notizen 224: berlin 2017/01

Nach dem Kino laufen wir über den Kottbusser Damm zurück nach Neukölln. J., der eine Woche gefastet hat, spricht den ganzen Abend schon von einem halben Döner, den er gerne essen möchte. Mir jedoch ist nicht nach der anderen Hälfte. Auf halbem Weg landen wir als Kompromiss im Burrito-Fenster. Mit einem Beef und einem vegetarischen Burrito – beide scharf und mit extra Guacamole – nehmen wir im Verkaufsfenster des ehemaligen Spätis platz. „Nix los heute Abend“, sagt J. und schaut über die Straße in Richtung des koreanischen Grillrestaurants.

Burritofenster Berlin, Januar 2017

Burritofenster Berlin, Januar 2017

Die Tortilla kann, wenn sie von feiner und gut durchgequetschter Masse, gut gebacken ist und ganz frisch in einer sauberen Serviette geboten wird, vollkommen befriedigen (…) Da man aber leider nicht immer frische Tortillas bekommt, wenn man keine eigene Tortillera zur Verfügung hat, so hilft man sich, indem man die kalt gewordenen am offenen Feuer röstet (…)“

Cäcilie Seler, Mexikanische Küche. In: Zeitschrift für Volkskunde 19 (1909)

Mehr zum Burrito hier.

Kas|sen|zet|tel 020

Warum Kas|sen|zet|tel? Hier!

Netto im Westend, Berlin 2016

Netto im Westend, Berlin 2016

Netto war früher Plus. Wir erinnern uns – der mit den lustigen kleinen Preisen. Der Nachfolger hier im Westen verzichtete ja leider auf die Maskottchen. Im Nordosten der Republik hingegen gibt es noch einen anderen Netto: die Discounter-Linie einer dänischen Handelskette. Weiterlesen

ethnografische notizen 218: hot spot

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Restaurant Hotspot, Berlin 2016

Die Handlung findet an einem Freitagmittag in einem chinesischen Restaurant im Westen Berlins statt.

Durch eine große Fensterfront blicken die Zuschauer und Zuschauerinnen auf eine Straßenecke mit der Filiale eines bundesweit bekannten Friseurs. Auf den niedrigen Fensterbänken stehen mit Fici und Clivien bepflanzte Blumentöpfe. An der rauverputzten Wand quadratische Lampen und moderne chinesische Kunst. Weiterlesen