ethnografische notizen 292: frankreich 2021 (12/14)

Tartare tradionnel, Troyes 09/2021

Auf dem Weg von der Bretagne in die Vogesen machen wir Mittagspause im Département Aube. Die Stadt Troyes hatte ich eigentlich nicht besonders gut in Erinnerung – viele Fachwerkhäuser, ein wenig heruntergekommen. Diesmal aber zeigt sich das historische Zentrum in einem ganz anderen Licht.

Seit unserer letzten Reise in die Gegend (2009) ist offensichtlich viel investiert worden, um Straßen und Häuser instand zu setzen und aufzuwerten. Wir laufen zur Touristeninformation, um uns einen Stadtplan zu besorgen. Direkt um die Ecke beginnt eine Straße mit vielen kleinen und größeren Restaurants, deren Terassen jetzt um die Mittagszeit gut besucht sind. Hauptsächlich Französ:innen und nicht alle scheinen Urlaub zu haben.

„Wollen wir was essen“, fragt P. und ich erkenne an seinem Gesichtsausdruck, dass es sich um eine rethorische Frage handelt. Wir nehmen auf der Terrasse der „Taverne“ Platz, einem größeren, nicht ganz so moderne Lokal. Die Karte umfasst neben zwei Burgern und ein paar Pastagerichten vor allem französische Bistroklassiker. Zweimal kreuzt ein schwarzer Uber Eats-Fahrer mit seinem Rad den Platz. Wir bestellen „Cochon de lait“, ich „Tartare traditionnel“ mit Pommes frites und der junge Kellner mit den vielen glitzernde Ringe an der Hand bringt unsere demi-bouteille Sancerre in einem Kühler an den Tisch. 

Tartare ist ein Gericht, dass ich lange Zeit mit einem gewissen Luxus in Verbindung brachte. Rohes Fleisch, dass die beste Qualität haben muss, damit man davon nicht krank wird. Ab und zu gönnte meine Mutter sich in der Stadt ein halbes Brötchen mit Mett und Zwiebeln, was ihrer saarländischen Neigung zu deftigem Essen sehr entgegenkam, dass sie sich aber aufgrund eines sehr komplexen und vielschichtigen Verhältnisses zu Schweinefleisch nur selten erlaubte. Rohes Fleisch dürfe man auf keinen Fall essen, hieß es dann direkt immer, dies hier sei eine absolute Ausnahme. 

Während man ein Mettbrötchen in fast jeder Metzgerei und Bäckerei kaufen konnte, gab es Rindertartar nur in besonderen Restaurants, ergo musste es ein Luxusprodukt sein. Ich bin mir nicht sicher, wann ich den Dauerbrenner auf der Speisekarte französischer und belgischer Restaurants zum ersten Mal gegessen habe. Vielleicht sogar erst auf einer Dienstreise nach Brüssel im Jahr 2011, wo das Gericht „non préparé“, also unvermischt, serviert wurde.

Damals zögerte ich kurz, denn mit dem rohen Ei obenauf überschritt ich ein weiteres Hygiene-Tabu meiner Kindheit, ebenso komplex und widersprüchlich wie das rohe Fleisch an sich. Denn während rohe Eier etwa in Nachspeisen absolut tabu warm, war das Auslecken der Rührschüssel beim Kuchenbacken kein Problem

Der französische Philosoph Roland Barthes machte sich 1957 in seinen „Mythen des Alltags“ ein paar kursorische Gedanken um die Bedeutung von Steak frites für sein Land und bezeichnet nebenbei den Verzehr von Beefsteak-Tartare als eine beschwörende Handlung.

„In dieser Art der Zubereitung sind alle Keimzustände der Materie enthalten, der blutige Brei, das schleimige des Eis, der ganze Zusammenklang weicher lebender Substanzen […]“*

Da hätte meine Mutter nicht widersprochen, ich hingegen fühle mich immer noch ein wenig aufmüpfig, wenn ich Tartare bestelle. Preparé ou non-prépare!

*Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964, S. 37