ethnografische notizen 289: frankreich 2021 (9/14)

Wilde Blaubeeren, Vogesen 09/2021

In der Bretagne finden wir ein paar saure Brombeeren und massenhaft Schlehen in den Hügeln oberhalb der Küstenlinie. Außerdem ein paar Bäume mit wilden Äpfeln. Ein paar besonders schöne Exemplare davon lesen wir auf und nehmen sie mit nach Hause. Unterschiedliche Sorten, von fahlgelb über hellgrün bis dunkelrot.

Später, als ich sie mit meinem Taschenmesser aufschneide, erweisen sie sich aber als eher ungeeignet für den direkten Verzehr, mit ihren schönen, reifen Aromen, aber auch vielen Gerbstoffen und anderen herben Noten. Ich frage mich, ob sie da im Dickicht wirklich wild sind oder vielleicht für die Produktion von Cidre gepflanzt wurden.

In der zweiten Woche in den Vogesen sieht es schon wieder ganz anders aus. Auch hier sind die übriggebliebenen Brombeeren klein und wenig süß, aber vor dem Haus glänzen dicke, schwarze Holunderbeeren im Gegenlicht. Die Vermieterin bringt uns eine Schale mit sonnenwarmen Himbeeren aus dem Garten hinter dem Haus und beim Wandern ist der Boden mit Pilzen übersäht.

„Kann man die essen?“, fragt P. mich jedes Mal, wenn er ein besonders großes oder auffälliges Exemplar sieht. „Keine Ahnung“, antworte ich, weil ich außer ein paar Röhrenpilzen (Stein- und Butterpilze sowie Maronen, um genau zu sein) wenig erkennen. Diesen Teil ihres Wissens hat meine Mutter leider nicht an mich weitergegeben, da sie nach Tchernobyl die von allen  so geliebte Pilzsuche einstellte und nie wieder aufnahm. Außerdem möchte ich gar nicht mit dem Sammeln anfangen, auf diesen Wanderungen. Da mag der Steinpilz noch so attraktiv sein. Das Bestimmen von Pflanzen und Vögeln dauert schon lange genug.

Die erste größere Wanderung (rund 20 km) auf den Mont Climont hinauf ist anstrengend, nicht nur wegen der Länge, sondern auch wegen der Steigung hinauf auf knapp 1.000 Meter und der noch unbarmherzigen Septembersonne. Als wir vom Julius-Eutinc-Turm heruntersteigen, sind die Picknicktische auf der Kuppe gerade von den drei Menschen besetzt, denen wir während der sechsstündigen Wanderung begegnen werden. Wir beschließen daher, uns auf dem Weg nach unten einen schönen Platz für unser Mittagessen zu suchen. Ein paar hundert Meter weiter den Berg hinunter setzen wir uns auf große Steine im Abhang und lassen den Blick hinüber in den Schwarzwald schweifen. Wir essen die mitgebrachten belegten Baguettes und das Obst. Für einen Moment denke ich, dass wir uns letzten Endes doch nicht sehr von unseren Eltern und Großeltern unterscheiden.  P. pflückt ein paar Waldbeeren, die ganz bequem direkt neben ihm wachsen. „Spät für Worbele!“, schreibt mein Vater zurück, als ich ihm das Bild schicke, unter anderem für Beeren benutzt er seit einigen Jahren wieder die Dialekt-Ausdrücke. „Schwarzbeeren!“, antwortet meine Freundin Jenny. „Sagt man so bei euch in Bayern?“, frage ich und bekomme den sprachlichen Unterschied zwischen Wildsammlung (Schwarzbeeren) und Supermarkt (Blaubeeren) und erklärt. Der gilt offensichtlich nicht nur in Süddeutschland, denn im Dorfsupermarkt stoße ich auf gleich zwei Blaubeermarmeladen desselben Herstellers: „Confiture de Myrtille sauvage“ und „Confiture de Bluet“.