
Als wir in den Ort hineinfahren, sehen wir den Markt. Wir sind in Lannion, weil der dortige Supermarkt laut Google auch sonntags geöffnet hat. Es ist Ebbe und wir parken am Ufer des Flusses Léguer, der um diese Uhrzeit fast komplett leergelaufen ist. „Lass uns erst mal hier gucken“, sage ich. Ein gutes Dutzend Marktstände mit Obst und Gemüse, ein bisschen Fleisch und Wurst, sowie appetitlich duftenden Hähnchen vom Grill.
Das meiste davon stammt aus regionaler Produktion, ist aber mit Ausnahme von ein bisschen Gebäck auf dem Kuchenstand, angenehm folklorefrei. Keine bretonischen Fahnen, keine Souvenirverpackungen, kein Nippes drumherum.
Zunächst diskutieren wir, vielleicht auf beiden Seiten eine Spur zu engagiert, was es zu Abend geben soll. Weil wir uns nicht einig werden können, entscheiden wir uns spontan für ein Dutzend Austern. Ein Dutzend der Kategorie #3 kosten 6 Euro. Während wir in der Schlange stehen, recherchiere ich auf dem Handy, wasnon-laiteuse bedeutet. „Austern laichen im Sommer“, lese ich auf Wikipedia, „in dieser Zeit sind sie milchig, auch verändert sich die Konsistenz des Fleisches.“
Dann überlege ich, was die Menschen wohl dazu bewegt, hier auf dem Markt und nicht im Supermarkt einzukaufen. Die meisten Produkte finden sich in ähnlicher Qualität auch im Intermarché oder Super-U. Vermutlich spielt auch das soziale Erlebnis beim Einkauf eine Rolle. Zwar isst oder trinkt niemand vor Ort, aber man spricht miteinander und der Mann hinter uns am Metzgerwagen spricht die Verkäuferin mit dem Vornamen an.
In den vergangenen Jahren habe ich auf meinen Reisen immer wieder den Niedergang der Infrastruktur in der Provinz sehen können. Verlassene oder umfunktionierte Markthallen, aber vor allem immer mehr Leerstand in den Einkaufsstraßen. In den touristischen Zonen des Landes haben sich die immer gleichen Souvenirläden breitgemacht, in der Peripherie sind die Ladenlokale oftmals zugebrettert oder schlicht verlassen. Märkte, die, wie hier in Lannion, ein oder zwei Mal in der Woche stattfinden, haben aber offensichtlich noch eine Chance.
„In den großen Städten der französischen Provinzen dienen die von der Stadtverwaltung veranstalteten Märkte noch immer der Versorgung mit vollreifem, frischem Obst, mit Gemüse, Käse und Wurst“, schreibt die amerikanische Autorin M.F.K. Fisher 1968 in „Die Küche in Frankreichs Provinzen“. „Auf seltsame Art triumphieren diese Plätze über die neuen Supermärkte, zum mindesten durch ihre stets wechselnde Vielfalt und ihre frisch angebotenen Gaumenfreuden.“ Seitdem ist viel passiert in den Innenstädten. „Zu deren Verödung tragen zweifellos die monströs gigantischen Hypermärkte draußen auf dem Acker bei“, befindet Günter Liehr im „Länderporträt Frankreich“ von 2017.
Und doch scheinen beide recht zu behalten. Einerseits gibt es immer noch Märkte, andererseits dominieren Carrefour, Leclerc und Intermarché eindeutig den Alltag. Ganz zu schweigen von den „neuen“, aus Deutschland importierten Discountern wie Aldi & Lidl. Die Dimensionen haben sich deutlich verschoben, die Märkte auf den Plätzen sind kleiner geworden, die Supermärkte in den Vorstädten hingegen wachsen ins Unermessliche. In einem Vorort von Troyes halten wir an einem Carrefour, der so groß ist, dass ich mir sicherheitshalber die Nummer des Eingangs merke, durch den ich gekommen bin, um auch wieder hinauszufinden.
Im Buch von 1968 findet sich die Fotografie einer jungen Französin, die exemplarisch bei den Vorbereitungen für eine Mahlzeit begleitet wird. Das Bild zeigt sie beim Einkauf auf dem Markt, im Gespräch mit einer Verkäuferin. „Nachdem sie Preis und Qualität diskutiert hat, kauft Annie frischen Schnittlauch, Estragon und Kerbel für ihren Salat“, lautet die Bildunterschrift. „Ein paar Meter weiter sind die Stände, die Käse, Obst, Wurst und gebratene Hühner anbieten.“
Diese Aufstellung zumindest hat sich in den vergangen 53 Jahren nicht verändert.