Dies ist kein Foodie-Reisebericht. Ich war nicht auf der Suche nach dem spektakulärsten LBV Tawny, den besten Ovos moles oder dem Geheimnis der Francesinhas. Stattdessen vier Tage touristisches Programm in einer mir bislang unbekannten Stadt. Keine aufwändige Vorrecherche also, keine Tipps aus den eigenen Netzwerken, keine Facebook-Power, sondern ein mehr oder weniger erratisches durch die Stadt laufen auf der Suche nach dem, was auf dem Weg liegt. Dazu jetzt ein paar allgemeine bis selbstkritische Gedanken. Selbstredend auch ein bisschen was Gastronomisches, weil Reisen und kulinarische Interesse nun mal nicht zu trennen sind und weil Geschichten über Essen nun mal das sind, was ich kann.
Die Reise beginnt im Vorfeld schon mit einem kleinen unguten Gefühl. Wir buchen einen Ryanair-Flug, weil das die einzig praktikable Lösung ist, an den vorgesehenen Tagen ohne Umsteigen und Zeitverlust ans Ziel zu kommen. Dann die Wohnung. Ein Appartement, durchdacht saniert, stilsicher eingerichtet und mit spektakulärem Blick auf den Douro. Und während ich auf dem Balkon stehe und die Aussicht auf die Vila Nova de Gaia an der anderen Seite des Flusses bestaune, überlege ich, wann ich zum ersten Mal über Airbnb gebucht habe. Glücklicherweise vergisst das Internet nichts und auf meinem Profil findet sich eine Reise nach Colmar im August 2013. Da war der Megaanbieter noch eine Alternative. Man kam im Gästezimmer unter oder der Gastgeber zog, wie damals im Elsass, bei unserer Ankunft mit der Schmutzwäsche im Gepäck für ein paar Tage zu seiner Freundin. Davon ist, zumindest hier in Porto, nicht mehr viel übrig. Ein Guesthouse nach dem anderen, allerortens Werbungen für Holiday Homes und das Geräusch von Rollenkoffern. Bei der Buchung können wir vier uns gar nicht entscheiden, weil uns so viele, wirklich schöne Unterkünfte vorgeschlagen werden. Eine attraktiver, komfortabler und eleganter als die nächste. Alle „completely renewed“, mit Nespresso Maschine, „just a few steps away from the best monuments of the city“ und alle vergleichsweise günstig (unsere kostet schlappe 39,75 € pro Nacht und Person).
Der Reiseführer beschreibt die Erfolgsgeschichte des neuen Porto, die mit der Auszeichnung der historischen Altstadt als UNESCO-Weltkulturerbe (1996) und dem Titel der Europäischen Kulturhauptstadt (2001) begann. „Hilfreich war auch der rasante Anstieg der Urlauberzahlen, befördert durch Easyjet und Ryanair (…) Ihren Teil dazu beigetragen haben verschiedene Tourismusorganisationen, Fachzeitschriften und viele Urlauber, die Porto als eines der schönsten Reiseziele in Europa ausgezeichnet haben.“ Billige Flüge führen zu mehr Tourist*innen. In diesem Fall zu so vielen, dass ich mich in der mit monumentalen Azulejos dekorierten Eingangshalle des Bahnhofs São Bento frage, ob ich schon mal so viele reisende auf einem Haufen gesehen habe. Vermutlich schon, in Venedig, in Paris oder in Amsterdam, also da, wo man sie erwartet. Aber hier? In einer Stadt mit knapp 2.4000 Einwohner*innen, die ich vor ein paar Jahren noch auf der Karte hätte suchen müssen? In der Innenstadt sind sie überall, sprichwörtlich zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Sie spazieren über die obere Ebene der von einem Eiffel-Schüler erbauten Ponte Dom Louis I., sie gondeln mit der Teleferico de Gaia nach unten zur Promenade mit den Porthäusern und dann mit dem Funicular dos Guindais wieder hoch in Richtung Kathedrale in Sé. Sie befahren die Stadt in gelben und roten Doppeldeckerbussen und werden in offenen Tuk Tuks, nostalgischen Straßenbahnwagen und alten VW-Käfern die steilen Straßen zwischen Ribeira und Baixa rauf und runter kutschiert. Sie schippern auf Ausflugsbooten um die sechs Brücken und werden in Schwimmwesten auf Speedbooten mit brutalen Vollbremsungen über den Fluss geschleudert. Sie fliegen in Helikoptern, stehen auf Segways und Elektrorollern mit dicken Reifen … kurzum, sie sind überall!
In den Restaurants wird englisch, niederländisch, spanisch, italienisch und deutsch gesprochen. Es gibt chinesische, japanische, amerikanische und russische Gäste. Und die meisten von ihnen sind auf der Suche nach dem authentisch-kulinarischen Erlebnis. Darum ist die Speisekarte in fast allen Restaurants mit dem Prädikat „portugiesisch“ oder „traditionell portugiesisch“ nahezu identisch. Man merkt, dass die hier anfliegenden Millenials nur noch bedingt Lust auf billige Hostel-Romantik mit möglichst preiswertem Fastfood haben. Das kleine Restaurant in unserer Straße mit der Werbung für „world foods“ (Falafel, Currywurst und 77 Sorten Bier) ist die Ausnahme. Zumeist gibt es nämlich Stockfisch (Bacalhau) mit und ohne Kruste aus Maisbrot, Oktopus (Polvo, zumeist frittiert), Reis mit Meeresfrüchten (Aroz de Marisco) und Francesinha (ein überbackener Toast mit Schinken, Käse, Wurst, Rindfleisch und Spiegelei). Das ist eine übersichtliche Auswahl, und mit Verlaub gesagt, ist die portugiesische Küche nicht unbedingt für ihre Komplexität bekannt. Eher für kräftige Aromen, deftige Kombinationen und überschaubare Zutatenlisten. Das an sich ist ja kein Makel, denn (mit einem Seitenblick auf Süditalien) so manche „cucina povera“ ist genau durch diese Schlichtheit berühmt geworden.
In den von mir besuchten Restaurants, ist das Essen nicht nur einfach, sondern auch einfach nicht besonders gut. Der Stockfisch im benachbarten Restaurant Torreão ist trocken, dazu gibt es in Orangensaft weich gekochte Zwiebeln. Die kleinen Kartoffeln mit Schale sind ebenso übergart wie der grüne Spargel daneben. Am nächsten Mittag im Restaurant Bulha sind die à la minute zubereiteten Venusmuscheln mit viel Zitrone, Petersilie und Schinken ziemlich gut, der Reis mit Meeresfrüchten aber vollkommen matschig – mal abgesehen davon, dass man das Gericht aufgrund der vielen kaputten Schalen von Taschenkrebs, Miesmuscheln und Garnelen kaum zu essen ist. Geschmacklich durchaus in Ordnung, denke ich wieder, aber handwerklich daneben. Und während wir so durch die Stadt schlendern und unzähligen, neuen, kleinen Restaurants begegnen, dämmert mir so langsam, warum das so sein könnte. „Die hohe Arbeitslosigkeit treibt junge Leute in die Selbstständigkeit. Und was liegt da näher, als eine Bar zu gründen an einem Ort, in dem der Tourismus boomt“, heißt es im Reiseführer. Das gilt wohl nicht nur für Bars, sondern auch für Restaurants. Vermutlich gibt es viele ambitionierte Neu-Gastronomen, die mit Ehrgeiz und Engagement ein Lokal eröffnen – vermutlich aber gar nicht kochen können. Oder vielleicht kochen können, aber keine Ahnung davon haben, wie man das, was man zuhause liebevoll auf den Teller dekoriert, für ein Restaurant stemmt; wie man eine Karte zusammenstellt, bei der nicht alles zu Brei zerkocht. Die meisten Tourist*innen scheint das nicht zu stören. Die Restaurants sind ganztägig gut besucht und auf Tripadvisor finden sich gut gelaunte Rezensionen: „The fried codfish was really tasty. The portions are very satisfying. And the octopus was soft, not chewy at all.“
Am letzten Tag unserer Reise laufen wir ein ganzes Stück raus aus der Innenstadt, vorbei an den Jardins do Palácio de Cristal, bis zum Mercado Bom Sucesso. Gegenüber einem riesigen, Einkaufszentrum im postmodernen Stil liegt eine Markthalle von 1951. Die geschwungenen Betonbögen des halbrunden Baus mit den großen Fenstern wurden 2013 grundlegend saniert. Da wo sich früher Gemüsekisten stapelten und unter gelben Schirmen Obst verkauft wurde, befinden sich heute gastronomische Inseln unter weißen Sonnensegeln, mit gefliesten Theken und Barhockern aus hellem Holz. Es gibt Sangria, Tapas und Sushi. Am frühen Sonntagnachmittag ist ordentlich was los und bis auf ein chinesisches Paar am Nachbartisch scheinen fast ausschließlich Portugies*innen sich hier zum Mittagessen zu verabreden. Ich habe ein bisschen Hunger und bestelle bei einem Systemgastro-Anbieter Risotto portoghese mit einer weichen portugiesischen Wurst (Alheira), Rübstiel und Knoblauch. Eine junge Frau in einer schwarzen Kochjacke und einer entsprechenden Mütze arbeitet, etwas wortkarg und nicht besonders gut gelaunt, die Bestellungen ab. Routiniert gibt sie nach und nach die Zutaten in die Pfanne, rührt, schüttelt und wendet und arbeitet gegen Ende gekonnt vorgegarten Reis mit einer Kelle Brühe unter.
Zitate aus: Portugal, Stefan Loose Travel Handbücher, Ostfildern 2016, S. 334/363